Dieser Knick zwischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft
- Selina

- 4. Mai 2020
- 3 Min. Lesezeit
Unsere heutige Kinderwagenausfahrt führte bewusst an einem Fahrradgeschäft vorbei.
Einer der wenigen Läden, der gerade öffnen darf.
Wir wollten uns eine zweite Kupplung für den neuen Fahrradanhänger zur Befestigung kaufen.
Für einen dieser Tage, an dem uns der Bewegungsdrang packte und wir mal wieder Schnick-Schnack-Schnuck spielten, wer heute den Anhänger mit unserer kleinen Maus ziehen darf.
Der Ein oder Andere würde nun den Kopf schütteln, wenn er die nächsten Zeilen liest…

Momentan lechzen wir beide nach noch mehr Bewegung, als vor Corona-Zeiten und halten uns an jedem Strohhälmchen fest, der uns eine Art Fitnesstraining verspricht.
Deshalb muss jedes unserer Fahrräder mit diesem Accessoire ausgestattet sein :)
Manch Einer wäre vielleicht froh, wenn der Partner als Zugpferd einspringen würde. Doch wir freuten uns schon auf das Brennen in den Oberschenkeln, wenn mal wieder ein
– gefühlt – unendlich langer Berg in Aussicht war.
Mathias schnappte sich seinen Mundschutz und ging in den Laden.
Ich wartete mit unserem kleinen Keks draußen. Keksi schlief seelenruhig und ich war in Gedanken.
Leute, die ebenfalls in den Laden schlenderten, beobachtete ich.
Schon bemerkenswert, wer sich nun alles für die Fahrradwelt interessiert. Ich bin mir sicher, einige Interessenten mussten Zuhause ihr Fahrrad erst wieder entstauben oder sich gar ein neues Gefährt anschaffen.
Ich lobe mir den nun gezwungenen Natur- und Bewegungsdrang der Menschen und wünsche mir, dass dieser bestehen bleibt
Versteht mich nicht falsch, ich bin immer noch begeistert davon, wie eine erzwungene Maßnahme, dazu auffordert, rauszugehen und sich zu bewegen. Auch wenn ich mich oft selbst dabei erwische, wie ich bei dem Anblick gelegentlich ins Schmunzeln gerade.
Helfersyndrom vs. Realist und Vollblutsportler.
Die gesellschaftliche Entschleunigung scheint mir auch in diesem Fachgeschäft angekommen zu sein. Mir blieb doch einige Zeit zum Beobachten, ehe mein Mann wieder aus dem Geschäft kam.
Es fuhr ein Auto vor. Eine ältere Frau öffnete die Fahrertür, sie stieg aus.
Die Hintertür öffnete sich und ein Mädchen trat ebenfalls aus dem Auto, ging drumherum, lief mit Abstand auf meinen Gehweg zu, bis sie etwa 3 Meter von mir entfernt stand und stehen blieb.
Sie war vielleicht 7 oder vielleicht auch schon 8 Jahre alt. Ich schätze, es war ihre Oma, mit der sie hier war.
Sie lächelte mich ehrlich und freundlich an. Ihre Oma nahm ihr einen Mundschutz aus der Tasche und zog ihr diesen auf. Das Mädchen ließ ihn sich anziehen, als wäre es das Normalste auf dieser Welt.
Das kleine Mädchen schaute mir dabei in die Augen. Sie sah völlig zufrieden aus, ohne jegliche Beklemmung, Scham oder auch Widerstand in ihrem Gesicht. Zumindest meinte ich das zu erkennen, denn mir blieb zur Ansicht nur ein kleiner Ausschnitt des süßen Gesichtchens.
Genau in diesem Moment blieb für mich die Welt stehen und Tränen schossen mir in die Augen. Ich komme irgendwie ins Stocken.
Dieses Lächeln werde ich so schnell nicht vergessen
Selbst jetzt, während des Schreibens, kämpfe ich mit den Tränen.
Was macht die Zeit nur mit mir?

Ich sah ein Kind, welches in und mit dieser Zeit aufwuchs. Dinge und Verhaltensmuster als selbstverständlich annahm, die für uns ungewohnt und bis vor kurzem noch unmöglich erschienen. Anblicke, Einschränkungen und eine neue Art von Gewissensbissen, die wir für uns erst noch sortieren müssen und ich für mich oft gar nicht so recht realisieren kann. All das wird uns verändern und unsere Kinder formen. Sie nehmen es, wie es ist und je nachdem, was diese Zeit mit uns macht, werden sie unser vorheriges Verhalten als „komisch“ und „ungewöhnlich“ bezeichnen.
Sie werden vielleicht nicht verstehen, weshalb wir ein Grummeln im Magen haben, wenn wir den Mundschutz aufziehen oder jegliche Art von Abneigung dem „Teil“ widmen.
Vielleicht werden sie sich einst fragen, weshalb die Menschen in Filmen zu unserer Zeit sich umarmten. Weshalb Menschenmassen in Konzerthallen strömten, sich an den Händen hielten, wenn sie miteinander tanzten.
Ich beobachte mich selbst dabei, wie ein merkwürdiges Gefühl in mir aufkommt, sobald mir der Fernseher Filme eines Miteinanders zeigt, dass momentan eher an Geschichtsbücher erinnert, als an die Gegenwart. Ich bemerke, wie ich unsicher werde, wenn ich anderen Menschen begegne. Menschen, denen ich nahestehe und die ich vor ein paar Wochen noch mit einer saftigen und herzlichen Umarmung begrüßte. Ich spüre, wie ich innerlich 2 Schritte rückwärtsgehe, wenn mein Gegenüber ein anderes Verständnis der Maßnahmen hat, als ich und damit eine andere Verhaltensweise an den Tag legt.

Es ist für mich eine Momentaufnahme, kein Für oder Wider dieser Maßnahmen. Auch wenn ich sie und den Umgang damit teilweise hinterfrage. Es ist für mich ein Empfinden, welches ich in diesen Augenblicken in mir trug.
Ich hoffe es ist nur eine Momentaufnahme, denn ich vermisse all diese lächelnden Gesichter hinter dem Mund-Nasen-Versteck. Ich spüre, wie ich mich selbst mit meinem neuen Accessoire noch nicht so recht wohlfühlen möchte. Ob es wohl am Mundschutz selbst liegt oder ob es der Knoten dabei in meinem Kopf ist?
Dieses Bild des lächelnden kleinen Mädchens werde ich jedenfalls so schnell nicht wieder vergessen.



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